„Wir stehen jetzt im vierten Jahr in Folge in voller Dürre“
Carlos Alberto Dayrell von der Brot für die Welt-Partnerorganisation Centro de Agricultura Alternativa do Norte de Minas (CAA NM) aus dem Norden des brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais über die Bedrohung der Einzigartigkeit und gleichzeitigen Vielseitigkeit des Cerrados. Dayrell bevorzugt deshalb, vom Cerrado im Plural zu reden. Hier berichtet er über die Herausforderungen und die Alternativen, die sich den Cerrados und ihren Menschen stellen.
Von Carlos Alberto Dayrell. Übersetzung: Christian Russau
Es sind die Cerrados, aus dem Tausende von Quellflüssen stammen, die die bedeutendsten hydrographischen Becken Brasiliens bilden. Aber es ist ein Lebensraum in schwerer Krise. Denn die Cerrados haben nicht die gleiche symbolhafte Anziehungskraft wie etwa Amazonien oder der Atlantische Regenwald; die Böden der Cerrados sind sandig und verfügen natürlichweise nur über eine geringe Fruchtbarkeit, die dort wachsenden Bäume sind geringer Gestalt, krumm gewachsen und haben grobschlächtigen Rindenwuchs. So blieben die Cerrados lange außerhalb des gierigen Blicks von Großfarmer/innen und Unternehmer/innen – bis ungefähr zur Mitte vergangenen Jahrhunderts. Ab den 1960er und 1970er Jahren aber, zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur wurde die Cerrados schrittweise zum Geschehen der voranschreitenden Agrarfront im Rahmen der Durchführung zentral gesteuerter, großer Entwicklungsprojekte. Aus der geopolitischen Sicht der Militärs waren die Cerrados eine Region der großen Leere, wirtschaftlich betrachtet und von nur wenigen Menschen bewohnt. Aber dies trifft nicht zu. Die Cerrados weisen eine lange Besiedlungsgeschichte auf, die mindestens elftausend Jahre zurückreicht. Zuerst kamen Jäger- und Sammlergemeinschaften und infolge dessen siedelten dort hunderte von indigenen Völkern der Macro Gê. Im Zuge der kolonialen Besetzung wurden die Cerrados zum Fluchtort tausenden Gemeinden von Schwarzen, die der Sklaverei entflohen waren, und von armen Kleinbäuerinnen und -bauern, die sich dort ansiedelten, mit der lokalen Bevölkerung mischten und dort ganz eigene Lebensformen sozialer und wirtschaftlicher Produktion in direkter Beziehung zu den von der Natur gebotenen Ressourcen entwickelten.
Um Amazonien, die ökologische Schauvitrine Brasiliens, zu schützen, müsse die Cerrado-Region wirtschaftlich genutzt und ausgebeutet werden. Dies geschah mithilfe modernem Landwirtschaftswissen, die die hügeligen Landschaften in endlos erscheinende Rinderweiden oder Monokulturen von Getreide, Kaffee, Zuckerrohr, Orangen, Baumwolle und Eukalyptus verwandelten.
Das laut verkündete Versprechen, des extrem produktiven und wettbewerbsfähigen landwirtschaftlichen Erfolgs und boomenden Handels mit land- und viehwirtschaftlichen Güter aus der Region warf aber auch das Licht auf die Schattenseiten: Unser Kollege Carlos Eduardo Mazzeto, Agraringenieur und einer der Gründer des CAA NM, wies bereits in den 1990er Jahren auf die stichhaltigen und übereinstimmende Belege hin, dass dieser Ansatz die perversen Seiten jener Modernität zeitige, dass die Territorien den dort lebenden tradionellen Völkern und Gemeinschaften mittels archaischer, an sklavereiähnliches Vorgehen gemahnende und die Umwelt massiv zerstörende Methoden enteignet werden, und das Ganze letztlich nur einigen wenigen zugute kommt.
In der Region des Norden von Minas Gerais und im Tal Vale do Jequitinhonha, Teil der semi-ariden Region Brasiliens, durchleben wir derzeit eine dramatische Situation. Untersuchungen und Forschungen in der Region zeigen die durch große land-, vieh- und forstwirtschaftliche Projekte in Gang gesetzte Umweltzerstörung, die Anfang der 1970er Jahre begann. Diese verursachten eine verschärfte, langanhaltende und umfassende Dürre, die zusammentraf mit der Versauerung und Verseuchung der Wässer und Grundwässer durch Agrargifte. Mit Unterstützung der Bundes- und Landesregierungen wurden dort Projekte von über einer Million Hektar durchgeführt – und dabei wurden die gemeinschaftlichen Ländereien enteignet, auf denen die Familien Früchte, Brennholz, Ölsaaten und Medizinalpflanzen sammelten, wo auch ihr freilaufendes Vieh die heimischen Pflanzen grasten. Tausende von Familien lebten fortan, eingepfercht durch Zäune, in den Flussniederungen. Hinzu kam eine Umweltpolitik, die die Familien verfolgte und beschuldigte, illegal das Land zu besetzen, das nun als Naturschutzgebiet ausgewiesen wurde.
Gegenwärtig merken die kleinbäuerlichen Familien deutlich, dass die Temperaturen dauerhaft ansteigen, dass der Niederschlag unregelmäßiger erfolgt, oftmals als Starkregen, und dass außerhalb der normalen Erntezeiten die vielfältigen ursprünglichen Anbau- und Weidemethoden mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen werden. Wir stehen jetzt im vierten Jahr in Folge in voller Dürre. Der Norden von Minas Gerais ist die Region im ganzen Bundesstaat mit der höchsten Dichte an kleinbäuerlicher Landwirtschaft und wir erleben eine dramatische Notsituation, die bald ein regelrechtes Heer an Klimaflüchtlingen hervorrufen könnte. Dies konnte bislang verhindert werden, weil es noch immer Sozialprogramme und Nothilfe seitens der brasilianischen Bundesregierung gibt.
Trotz dieser schwerwiegenden Umstände gibt es aber viele Initiativen, die von den kleinbäuerlichen Gemeinschaften und Familien selbst entwickelt und von agrarökologisch arbeitenden und die Rechte der Kleinbäuerinnen und -bauern verteidigenden Organisationen unterstützt werden. Es sind Initiativen, die auf die Möglichkeit der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelproduktion unter Anpassung an die veränderten klimatischen Bedingungen angepasst hinarbeiten.
Um welche Initiativen handelt es sich dabei?
Es sind Initiativen der Rückgewinnung der territorialen Kontrolle, die das angestammte Land vom Staat rechtlich zugesprochen verlangen. Die Gemeinschaften nutzen legale Mechanismen der brasilianischen Gesetzgebung und auch die internationaler Konventionen wie die Konvention 169 der ILO zum Beispiel, und dergestalt die Landtitel zugesprochen zu bekommen. Neuerdings werden dazu auch Gesetze und Mechanismen auf kommunaler Ebene genutzt. Haben die Gemeinschaften die rechtliche territoriale Kontrolle, können sie, in Kenntnis der lokalen Gegebenheiten, Raumnutzungspläne für zum Beispiel Wassereinzugsgebiete ausweisen, die der hydrologischen Bestandserholung dienen, andere wiederum der Bewirtschaftung durch Sammel- oder agroökologische Forstwirtschaft zugesprochen werden. Ergänzt werden diese Initiativen durch den Schutz der Wasserquellen sowie durch die Errichtung kleiner Wasserbarrieren entlang der Straßenläufe und an den Ufern der Springbäche, um dergestalt den Oberflächenablauf des Wassers bei Starkregenvorfällen zu begrenzen und den Wassereintrag in die grundwasserführenden Schichten zu erhöhen.
Es sind Initiativen der Stärkung der Widerstandsfähigkeit der lokalen Landwirtschaft - gegen den zunehmenden Umwelt-, Hitze- und Trockenstress der Pflanzen, indem die ganze Bandbreite und Vielfalt der einheimischen Saatgüter, bekannt als sementes crioulas, eingesetzt wird und so diversifizierte, kleinbäuerliche Landwirtschaft mit lokal angepasstem Naturschutz bei gleichzeitigem Boden- und Erosionsschutz die heimische Flora gefördert wird.
Es sind Initiativen der Ausweitung der kleinbäuerlichen Gärten durch Anbau von kultivierten als auch wildwachsenden Gemüsen, Kräutern und Obst, deren Bewässerung in kritischen Trockenzeiten durch das in Behältern auf den Dächern und in Zisternen neben den Häusern und Gehöften gesammelten Regenwasser. Dazu gibt es neben den Wasserbehältern und Zisternen das Zusammenspiel von kleinflächig betonierten, einer abschüssig zum Regenwasser verlaufenden Fläche zum Sammeln desselben sowie gelegte Wasserleitungen, ebenso wie die Wiederverwendung des Wassers aus Haushalt für Bewässerung der Gärten und Obstanbauflächen (Sistema PAIS).
Es sind Initiativen der angepassten Viehwirtschaft, die auf Zugabe von natürlichen Medizinalpflanzen, sanfte Veterinärmedizin und alternative Futterversorgung im natürlichem Ambiente für die freiweidenden Tiere setzt
Es sind Initiativen der Stärkung traditioneller Sammelwirtschaft von Früchten und Ölsaaten in Kombination mit neuen, angepassten, nachhaltigen Kultivierungsmethoden einheimischer Pflanzen und deren Verarbeitungsmethoden (Fruchtsirup, Gelées, Süßwaren, Speiseöle, Medizinalpflanzen sowie deren kosmetische Nutzung).
Und es sind Initiativen, die den kleinbäuerlichen Produzenten den Zugang zu traditionellen Märkten wie der Wochenmärkten in den Städten verbessern als auch neue Märkte wie die Schulspeisungprogramme eröffnen.